«Jetzt zählt jeder Bissen»

Donnerstag, 05. Dezember 2024
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Rund 30 Prozent des aktuellen Klima-Fussabdrucks der Ernährung sind durch jüngste Veränderungen im Nahrungsmittelkonsum und den damit zusammenhängenden Landnutzungsänderungen verursacht. Warum jetzt eine nachhaltige Ernährung das Ziel sein sollte. 

Der Klimawandel zählt laut Fachexperten zu den grössten Herausforderungen unserer Zeit. Denn dieser wirkt sich bereits spürbar auf die Nahrungsmittelversorgung in Europa aus. «Extreme Wetterereignisse wie Hitzewellen, Dürreperioden und Überschwemmungen beeinträchtigen die landwirtschaftliche Produktion», berichtet Mariella Meyer, Food-Expertin und Senior Manager Sustainable Markets beim WWF Schweiz. «Insbesondere der Mittelmeerraum ist stark von Wassermangel betroffen, was den Ernteertrag verringert. Geringe Niederschläge und steigende Temperaturen werden dort bereits seit Jahrzehnten verzeichnet.» 
 
Treiber des Klimawandels
Dabei sind laut dem Thünen-Institut die Produktion und Bereitstellung von Nahrungsmitteln einer der bedeutendsten Treiber des Klimawandels. «Etwa ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen entsteht durch das Ernährungssystem. Dabei spielen tierische Produkte sowie die massenhafte Verschwendung von zum Teil hochverarbeiteten Produkten eine entscheidende Rolle», sagt Dr. Thomas Schmidt. Er ist im Arbeitsbereich Analyse der Agrar- und Ernährungswirtschaft beim Thünen-Institut tätig. Dazu bemerkt Dr. Felicitas Schneider, Koordinatorin Collaboration Initiative Food Loss and Waste beim Thünen-Institut: «Je später in der Wertschöpfungskette ein Lebensmittel weggeworfen wird, desto mehr Ressourcen wurden schon dafür eingesetzt.» Entsorgung statt Verzehr eines Lebensmittels habe zur Folge, dass alle vorherigen Aufwendungen am Ende keinen Nutzen nach sich ziehen würden. Der prozentuale Anteil von Verlusten und Abfällen an den globalen Treibhausgasemissionen beträgt nach Schätzungen der Vereinten Nationen acht bis zehn Prozent. 
 
Grosse Herausforderungen
Das Ernährungssystem gerät zunehmend unter Druck. Zumal die Landwirtschaft zu den Mitverursachern des Klimawandels zählt, gleichzeitig aber auch besonders stark vom Klimawandel betroffen ist. Die Problematik bezüglich der globalen Nahrungsversorgung wird noch plastischer angesichts der Entwicklung der Weltbevölkerung. Acht Milliarden Menschen leben derzeit auf der Erde. Aktuell wächst die Bevölkerung jedes Jahr um etwa 80 Millionen. Statistiker der Vereinten Nationen prognostizieren, dass 2050 rund 9,7 Milliarden Menschen auf dem Planeten leben werden. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird die Kombination aus Bevölkerungswachstum und üppigerer Ernährung erfordern, dass im Jahr 2050 auf der Erde etwa doppelt so viel angebaut werden muss wie heute. Doch die landwirtschaftlichen Anbauflächen dazu sind begrenzt.
 
Nachhaltige Ernährung
Eine Umstellung auf nachhaltigere Ernährung im Rahmen der Planetary Health Diet könnte den Klimawandel laut Branchenexperten erheblich abschwächen. Dabei fusst eine nachhaltige Ernährung nach Meinung von Dr. Thomas Schmidt auf planetaren Grenzen, die ökologisch, ökonomisch, sozial und gesundheitlich langfristig tragfähig sind. «Die Politik müsste noch mehr Rahmenbedingungen wie Vorgaben für sozial faire und entwaldungsfreie Lieferketten schaffen, die Industrie diese Ideen bestmöglich umsetzen und die Verbraucher höhere Preise akzeptieren, um Lebensmittel aus nachhaltiger Produktion zu konsumieren», resümiert der Wissenschaftler. 
 
In einer stärker pflanzenbetonten Ernährung sieht auch Dr. Birgit Schulze-Ehlers ein wichtiges Element, um die ernährungsbedingten Umweltwirkungen zu reduzieren. «Und: Gering verarbeitete Produkte haben in der Regel Vorteile gegenüber hoch verarbeiteten Alternativen. Tierhaltungssysteme können zugleich tier- und umweltfreundlicher gestaltet werden, sodass ein vollständiger Fleischverzicht nicht im Fokus der Empfehlungen steht», so die Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Georg-August-Universität Göttingen im Bereich Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte. Dem fügt Mariella Meyer vom WWF Schweiz hinzu: «Es ist wichtig, dass in Europa weniger tierische Produkte konsumiert, dafür aber mehr Hülsenfrüchte, Nüsse und Samen sowie Vollkorngetreide verzehrt werden.»
 
Ausrichtung Zukunft 
Die Zukunft der Nahrungsmittelindustrie wird stark von der Notwendigkeit geprägt sein, nachhaltiger zu werden. Davon ist der WWF fest überzeugt. «Neben technologischen Innovationen und alternativen Proteinquellen müssen Unternehmen auch in klimaresistente Produktionsmethoden investieren. Unternehmen tragen auch einen Teil der Verantwortung, Konsumenten auf diese Reise mitzunehmen», fordert Mariella Meyer. Besonders der Einzelhandel, der massgeblich an der Gestaltung von Ernährungsumgebungen beteiligt sei, müsse sich dafür einsetzen, das nachhaltige Konsumverhalten von Kunden zu fördern. Der WWF fordert unter anderem vom Einzelhandel, dass dieser sich bezüglich der Planetary Health Diet engagiere. «Konkret fordern wir, dass 60 Prozent der verkauften Proteinquellen pflanzlich sein sollten. Momentan liegt der Anteil laut WWF bei zehn bis 15 Prozent.  
 
Im Wesentlichen sollte sich die Nahrungsmittelindustrie auf zwei Bereiche fokussieren – das Lieferantenmanagement und die Produktentwicklung, so eine Empfehlung von Dr. Birgit Schulze-Ehlers. Nahrungsmittelhersteller könnten aktiv darauf hinwirken, dass die Nahrungsmittelproduktion insgesamt geringere Umweltwirkungen mit sich bringt. Dafür brauche es Transparenz über die Aktivitäten entlang der Wertschöpfungskette und den gemeinschaftlichen Einsatz für eine Reduktion der problematischsten Umweltwirkungen. Viele Lebensmittelhersteller würden aktuell durch ihre Abnehmer dazu angehalten, sich im Rahmen von der Science-Based-Targets-Initiative (SBTi) verpflichtende Ziele zu setzen. Insgesamt müssen Lieferantenprogramme entwickelt werden, die Anreize setzen, um Daten zu liefern, Massnahmen abzuleiten und diese entsprechend umzusetzen. «Hier sind auch der Lebensmitteleinzelhandel und andere Abnehmer gefragt, sich an den Mehrkosten zu beteiligen, die dadurch gegebenenfalls entstehen.» Ferner könne die Zusammensetzung eines Produktes vor dem Hintergrund transparent gemachter Umweltwirkungen einzelner Zutaten angepasst werden. Damit dies nicht auf Kosten der Nährwert-Qualität gehe, sollten Unternehmen simultan Vorgaben zu beiden Bereichen machen und sich nicht einseitig fokussieren. 
 
Es erfordert jedoch gemeinsame Anstrengungen der gesamten Wertschöpfungskette, wesentliche Verbesserungen zu erreichen. «Wir sprechen ja nicht ohne Grund von Ernährungssystemen – das betont auch die positiven Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Produktionsbereichen der Landwirtschaft», resümiert Dr. Birgit Schulze-Ehlers abschliessend.  
 
 

Label-Debatte

Das Markant Magazin ONE hat mit Dr. Birgit Schulze-Ehlers über Sinn und Zweck eines Klimalabels gesprochen. Aktuell arbeitet sie am EU-Projekt «Life Eco Food Choice» mit, das das Ziel verfolgt, der Europäischen Kommission bis 2028 ein Umweltkennzeichnungssystem vorzulegen.

Klimalabel sollen Shopper über die Klimawirkung eines Lebensmittels informieren. Ein Grossteil der Umweltaussagen sind laut EU-Kommission wissenschaftlich nicht fundiert. Ferner besteht der Verdacht des Greenwashings. Kann ein Klimalabel dennoch die Lösung sein? 
Dr. Birgit Schulze-Ehlers: Ein Klima- oder Umweltlabel, dass auf klaren methodischen Regeln fusst, kann ein wichtiger Teil der Lösung sein. Unsere Studien zeigen, dass viele Verbraucher gern besser im Sinne des Klima- beziehungsweise Umweltschutzes handeln würden. Die Bereitschaft zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema fehlt aber den meisten von ihnen. Deswegen ist es wichtig, die Produkte verständlich zu kennzeichnen. 
 
Welche Massnahmen braucht es hierzu? 
Dr. Birgit Schulze-Ehlers: Geregelt werden müssen neben der konkreten Methodik unseres Erachtens auch die zu verwendenden Datenbanken. Vorteilhaft wäre eine staatlich getragene, europäisch harmonisierte Datenbank, die für Zutaten und/oder Endprodukte Werte bereitstellt, die die Unternehmen zur Kalkulation heranziehen.
 
Wie sollte das Klimalabel aussehen? 
Dr. Birgit Schulze-Ehlers: Die Forschung weist auf die Vorteilhaftigkeit von farblich abgestuften Kennzeichnungen hin – wie etwa beim NutriScore. Wenn jedoch ähnliche Kennzeichnungen auf demselben Produkt vorhanden sind, beginnt die Konfusion. Es ist also darauf zu achten, dass sich die verschiedenen farblichen Kennzeichnungen hinreichend unterscheiden.
 
 

News

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Das Start-up K-Group ist der Gewinner der Pitchs auf dem 126. Markant Handelsforum.

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Das Tiroler Familienunternehmen MPREIS kooperiert in Südtirol mit zahlreichen lokalen Betrieben aus der regionalen Kleinstruktur, insbesondere mit Bäckereien, Landwirten und Metzgereien.

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Die EU-Kommission rechnet für das Jahr 2025 mit einem marginalen Anstieg der europaweiten Milchanlieferung um 0,3 Prozent auf 10,8 Millionen Tonnen.

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Bedingt durch die extremen Witterungsbedingungen werden die Erntemengen in deutschen Weinbergen 2024 deutlich geringer ausfallen als im Vorjahr, dafür aber nach Einschätzung des Deutschen Weininstituts (DWI) hervorragende Qualität liefern.

Projekt

Da Nachhaltigkeit im Mittelpunkt vieler Lebensentscheidungen steht, fordern Verbraucher immer mehr Transparenz und zuverlässige Daten über die Herkunft und Produktion der von ihnen gekauften Lebensmittel. Wie dies erfolgreich gelingen kann, zeigt unter anderem das Projekt «Tomato SAUCE – Sustainable Agriculture Understanding in Central Europe», das OI Pomodoro da Industria del Nord Italia (OI) zusammen mit der EU und dem AGRIP-Programm ins Leben gerufen hat.  

Das Ziel des Projekts ist es, das Wissen und Bewusstsein der Verbraucher über die hohen Umweltstandards, die bei den Produktionsmethoden in der EU angewendet werden, zu erhöhen, die Lücke zwischen Einstellung und Verhalten zu schliessen und spezifisches Wissen über die Nachhaltigkeit der verschiedenen Phasen des Lebenszyklus von Tomatenkonserven in der Tomatenwertschöpfungskette im Norditalien zu fördern. Im Frühjahr 2023 ist das zweijährige Projekt gestartet. Der Schwerpunkt liegt auf zwei den Ländern Deutschland und Frankreich, die zu den wichtigsten europäischen Märkten für italienische Tomaten-Konserven gehören.

OI Pomodoro da Industria del Nord Italia (OI) ist der Branchenverband für die Tomatenverarbeitung in Norditalien und repräsentiert 52 Prozent der italienischen Tomatenproduktion und -verarbeitung sowie 25 Prozent der europäischen Tomatenproduktion und -verarbeitung. Damit ist Italien nach den USA und China der grösste Tomatenverarbeiter der Welt und weltweit grösster Exporteur von Tomaten (nach Wert). «Wenn man also über die Qualität von Tomaten spricht, muss man auch (und vor allem) über Nachhaltigkeit sprechen», so OI. Daher basiert die nachhaltige Tomate-Produktion in Norditalien auf einem ganzheitlichen Ansatz, der mehrere Grundsätze umfasst:

  • Anbau: Der gesamte Anbau erfolgt ausschliesslich in integrierter (90 %) und biologischer Produktion (10 %).
  • CO2-Emissionen: Da die durchschnittliche Entfernung zwischen den Anbaufeldern und den Verarbeitungsbetrieben lediglich 60 Kilometer beträgt, kann auf Kühllager verzichtet werden und die Lkw-Emissionen belaufen sich auf dieser Strecke auf nur 7,8 Kilogramm CO2.
  • Wasserverbrauch: Dank Präzisionsbewässerung und Wiederverwendung in den Verarbeitungsanlagen konnte der Wasserverbrauch um 25 bis 30 Prozent reduziert werden.

«Die Umwelt ist ein komplexes, aber fragiles Ökosystem, und als Tomatenproduzenten setzen wir uns dafür ein, es zu erhalten», erklärt der Branchenverband. Darüber hinaus ist der Verband davon überzeugt, dass die europäische Richtlinie zur Sorgfaltspflicht von Unternehmen in Bezug auf die Nachhaltigkeit (CSDDD), die am 24. April 2024 verabschiedet wurde, ein wichtiger Schritt hin zu verbesserten ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitsbedingungen und konkreter Hilfe für einen fairen Wettbewerb sein wird.