Lange Zeit schien es, dass der Online-Handel mit Lebensmitteln langsam wachsen würde. Jetzt aber könnte Amazon einen Paradigmenwechsel erzwingen. Fachleute sehen den Handel unterZugzwang.
Der Online-Handel mit Lebensmitteln nahm bislang nur langsam an Fahrt auf, und auch Amazon tat sich mit den komplexen logistischen Herausforderungen der temperaturgeführten Heimzustellung schwer. Dann der Paukenschlag: Im Juni kauft der Online-Riese den Bio-Lebensmittelhändler Whole Foods in den USA für 13,7 Milliarden Dollar (12,3 Mrd. Euro) und zeigt damit, dass es ihm mit dem Einstieg in den Lebensmittelmarkt bitterernst ist. Dabei tritt Amazon jetzt nicht nur mit 465 Lebensmittelmärkten stationär in den Wettbewerb ein, sondern verfügt damit auch über die Infrastruktur-Basis für den Aufbau einer flächendeckenden Frische-Logistikkette. Möglicherweise entsteht hier die Blaupause für den großangelegten Eintritt von Amazon in den stationären und digitalen Lebensmittelhandel in anderen Ländern mit entsprechendem Wettbewerbsdruck. Viele Anteilseigner der internationalen börsennotierten Einzelhändler reagierten jedenfalls am Tag der Bekanntgabe dieses Amazon-Coups geschockt und schickten die Kurse – vorübergehend - teils zweistellig in den Keller.
Amazon bringt Bewegung in Onlinehandel
In Deutschland schauen Marktforscher und Einzelhändler einstweilen gespannt nach Berlin, wo Amazon Fresh seit Juni das gesamte Stadtgebiet und Potsdam mit FMCG und frischen Lebensmitteln beliefert. Der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandel (BVLH) wertet diesen Vorstoß als Zäsur im bislang zögerlichen Online-Geschäft mit Lebensmitteln: „Der Einstieg von Amazon Fresh in den deutschen Markt wird aus unserer Sicht Bewegung in den Onlinehandel mit Lebensmitteln bringen.“ Allerdings sieht der BVLH auch große Hürden auf dem Weg einer flächendeckenden Präsenz Amazons im deutschen Lebensmittelmarkt. Auf Grund des bisher räumlich nur eingeschränkten Zugangs zu Amazon Fresh sowie der „nicht unerheblichen finanziellen Einstiegshürden“ bleibe es abzuwarten, wie erfolgreich dieses Format ist.
Andere Branchenkenner warnen den etablierten Lebensmittelhandel allerdings davor, sich die Amazon-Aktivitäten erst einmal in Ruhe anzuschauen. „Die deutschen Lebensmittelhändler haben beim Online-Handel Nachholbedarf: Noch sind sie nicht ausreichend vorbereitet für den Eintritt von Amazon Fresh in den deutschen Markt, der unweigerlich Umverteilungsdynamiken auslösen wird“, meint Dr. Mirko Warschun, Leiter des Beratungsbereichs Konsumgüterindustrie und Handel bei A.T. Kearney. Online Food Retailing (OFR) biete nicht nur neue Marktpotenziale, sondern sei auch eine Bedrohung für den stationären Handel, der Umsatz an das Internet verlieren werde: „Die deutschen Einzelhändler müssen online rasch Boden gut machen, sonst wird ihnen im Internet das Wasser abgegraben“, so Warschun.
Umsatzpotenzial des deutschen OFR-Marktes bei 12 Milliarden Euro
Die Managementberatung A.T. Kearney untersucht seit 2011 den europäischen Markt für OFR. In der jüngsten Untersuchung wurden 2016 mehr als 2.300 Konsumenten in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz befragt. Zwölf Milliarden Euro beträgt das Umsatzpotenzial des deutschen OFR-Marktes, sollten die Deutschen Lebensmittel so fleißig im Internet einkaufen wie die Briten, die hier besonders aktiv sind. Noch aber bildet Deutschland das europäische Schlusslicht mit nur einem Prozent Online-Anteil am gesamten Lebensmittelumsatz. Im Vorreiterland Großbritannien sind es 4,2 Prozent. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man die Pro-Kopf-Ausgaben zwischen Spitzenreiter Großbritannien und Nachzügler Deutschland vergleicht: Dort geben die Konsumenten jährlich 154 Euro für Lebensmittel im Internet aus, hierzulande gerade einmal 18 Euro. Geht man nur von einer Verdoppelung des OFR-Marktes aus, entspricht das immerhin 1,9 Milliarden Euro Umsatzvolumen – Einkünfte, die den Einzelhändlern verloren gehen, wenn sie es nicht schaffen, online Marktanteile zu erobern.
Deutsche Lebensmittelhändler haben offenbar Mühe, Kunden online zu gewinnen und zu halten: 98 Prozent der befragten Deutschen kennen zwar OFR, aber mehr als die Hälfte hat noch nie Lebensmittel online bestellt. 23 Prozent der Online-Shopper waren mit Service oder Qualität nicht zufrieden, und ein Viertel hat sich sogar wieder ausschließlich dem stationären Handel zugewandt.
Internet für die Planer, Läden für spontane Kunden
Vor allem von den britischen Best Practices könne der deutsche Einzelhandel lernen, seinen Kunden den Weg ins Internet zu weisen, so die Autoren der Studie. Denn: „Es wird nicht reichen, massiv in Online-Angebote zu investieren, sondern es bedarf einer zielgerichteten Erfolgsstrategie, die zentrale Einflussfaktoren, affine Käuferschichten, relevante Kategorien und Kundenbedürfnisse sehr genau berücksichtigt.“ Und da sei der britische Handel auf gutem Wege.
Bislang glaubte man, dass es vor allem die Unzufriedenheit mit dem stationären Handel ist, die die Kunden ins Internet treibt. Das trifft laut Studie nicht zu. Zum einen ist die Zufriedenheit der deutschen Kunden mit ihrem stationären Supermarkt sehr hoch, zum anderen führen ganz spezielle Beweggründe zur Online-Bestellung. Kurzformel: Wer den Einkauf im Voraus plant, kauft seine Lebensmittel gerne im Internet. Die Spontanen gehen lieber in den Laden. In Großbritannien plant indes jeder zweite Verbraucher seinen Einkauf. In Deutschland ist es nur jeder vierte. Mit anderen Worten: Die Kernzielgruppe der Lebensmittel-Onlineshops ist in Großbritannien doppelt so groß wie in Deutschland.
Qualität, Service und Besonderheiten werten Onlinehandel auf
Die typischen OFR-Nutzer sind, wie die Studie weiter zeigt, zwischen 25 und 54 Jahren alt, besserverdienend (verfügbares Monatseinkommen mindestens 2.500 Euro) und mit wöchentlichen Lebensmittel-Ausgaben von mehr als 80 Euro alles andere als sparsam. Was die beim Internetkauf bevorzugten Produktkategorien angeht, zeigt sich größere Skepsis bei frischer Ware, während haltbare Produkte ohne Zögern per Mausklick bestellt werden. Die größte Hürde für OFR sind in Deutschland die Versandkosten: Fast die Hälfte der Befragten nennt sie als wesentlichen Grund, ausschließlich weiterhin im Laden zu kaufen.
Punkten können die Lebensmittelhändler im Internet mit Qualität, Services und Besonderheiten, die den Einkauf zu einem besonderen Erlebnis machen. „Die Briten zeigen, wie es geht“, heißt es in der Studie: zum Beispiel mit Ernährungsplänen, deren Zutaten schon im Online-Wagen liegen, einer smarten Suchfunktion für die Einkaufsliste oder einem Echtzeitpreisvergleich mit relevanten Wettbewerbern. Deutschland und die Schweiz haben bei den zusätzlichen Features im Internet hingegen noch „eklatanten Nachholbedarf“, diagnostiziert A.T. Kearney.
Rahmenbedingungen für OFR werden immer besser
„Online Food Retailing wird für die deutschen Lebensmittelhändler nur dann zum Erfolgsmodell, wenn sie sich erstens auf die OFR-affine Zielgruppe und die richtigen Produktkategorien konzentrieren. Zweitens gilt es durch Information, Qualität und besondere Features ein einzigartiges Online-Erlebnis zu schaffen“, sagt Dr. Mirko Warschun. OFR zu ignorieren, könnten sich die Lebensmittelhändler in Deutschland nicht leisten: „Der deutsche ORF-Markt ist so attraktiv, dass mit einem scharfen Wettbewerb zu rechnen ist, der auch vor dem stationären Handel nicht Halt machen wird.“ Nur wenige Monate nach dieser Prophezeiung ließ Amazon zunächst in den USA Taten folgen - mit der Whole-Foods-Übernahme und dem Einstieg in den stationären Lebensmittelmarkt. Fast zeitgleich begann Amazon auch in Deutschland damit, sein Lebensmittelgeschäft zu forcieren, zunächst im Großraum Berlin. Der Zeitpunkt
Dass die Rahmenbedingungen für OFR in Deutschland immer besser werden, zeigen aktuelle Marktzahlen. Der Online-Handel wird nach HDE-Prognosen seinen Umsatz 2017 um rund zehn Prozent auf 48,7 Milliarden Euro steigern. Das entspricht knapp zehn Prozent des Umsatzes im deutschen Einzelhandel, der 2017 insgesamt 493 Milliarden Euro erzielen dürfte. Mit plus 21 Prozent überproportional wachsen konnte schon 2016 der digitale Handel mit Lebensmitteln, auch wenn sein Anteil am gesamten Online-Geschäft derzeit noch unter einem Prozent liegt. „Der Einstieg von Internet-Pure-Playern in den Handel mit Lebensmitteln verstärkt noch einmal den Druck auf die Supermärkte“, sagt Stephan Tromp, stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim HDE. Tromp hält ein unterschiedliches Tempo in den einzelnen Sortimenten für wahrscheinlich: „Der Versand von Drogeriewaren oder Getränken stellt weniger Ansprüche als der von frischen Lebensmitteln.“